Sex ist eine tolle Sache. Die Sucht danach kann aber zerstörerisch sein. Kann nicht mal in der U-Bahn seinen Jagdinstinkt zügeln: Brandon Sullivan.
Shame (2011) – Die Story
Drehbuch: Steve McQueen, Abi Morgan
Mitte 30, attraktives Aussehen und einen coolen Job in der New Yorker Werbebranche – Brandon Sullivan (Michael Fassbender) hat alles. Leider auch eine Sexsucht, die Brandon nur zu gerne mit Prostituierten oder Pornographie auslebt. Ob ihn ausgerechnet seine unerwartet auftauchende und psychisch labile Schwester Sissy wieder auf den Pfad der Tugend bringen kann?
Die Einführung von Brandon Sullivan
Regisseur und Autor Steve McQueen legt mit einer komplexen Einführungssequenz los, die zwischen verschiedenen Zeiten und Locations hin und herspringt und Inhaltsangaben deutlich herausfordernder als üblich werden läßt. Wir starten in Brandons Wohnung. Wo dieser genauso nackt wie nachdenklich im Bett liegt. Als nächstes sehen wir Brandon bei seiner Fahrt mit der U-Bahn. Diese beiden Handlungsstränge und Locations werden nun miteinander unterschnitten. In dem Strang, der in der Wohnung spielt, sehen wir als nächstes das Ende des Geschlechtsakts zwischen Brandon und einer Dame, bevor Brandon dann am Morgen aufsteht und den Anrufbeantworter abhört. Er reagiert allerdings nicht auf die Nachricht einer Frauenstimme, doch bitte den Hörer abzunehmen. Später begrüßt unser Protagonist dann eine Prostituierte in seiner Wohnung und bittet diese sich in seinem Schlafzimmer langsam für ihn zu entkleiden. Nächste Szene, nächster Morgen. Wieder ignoriert Brandon eine Nachricht der vertrauten Frauenstimme auf seinem Anrufbeantworter. Und masturbiert dafür lieber kräftig unter der Dusche.
Unterschnitten wird dies alles mit einer U-Bahnfahrt von Brandon, bei der dieser eine attraktive Frau ins Visier nimmt. Mit fokussiertem Blick nimmt er visuellen Kontakt zu der Dame auf. Etwas, das mit den Geräuschen des Geschlechtsverkehrs zwischen Brandon und einer Prostituierten untermalt wird. Die hört die Dame in der U-Bahn zwar nicht, aber sie ist durch Brandons Jägerblick trotzdem genauso erregt wie peinlich berührt. Schließlich möchte sie dann doch lieber aussteigen. Trotz des Eherings an ihrer Hand stellt sich Brandon aber dicht hinter sie. Und steigt mit aus. Die Dame bekommt Panik und legt beim Verlassen der U-Bahn-Station einen deutlichen Zahn zu. Brandon bleibt lange dran, verliert sie dann aber schlussendlich im Gedränge.
Die Analyse
Heute gibt es einen ganz besonderen Leckerbissen. Eine der besten Charaktereinführungen des letzten Jahrzehnts. Regisseur und Autor Steve McQueen zieht dabei alle Register um uns seine durch Sexsucht getriebene Hauptfigur Brandon Sullivan vorzustellen. Ob Story, Bühnenbild, Regie oder Musik –die Einführung von Brandon ist in allen Bereichen ein Lehrbeispiel für großartiges Charakterkino.
McQueen präsentiert uns dabei zwei ineinander geschnittene Handlungsebenen. In der einen geht Brandon in der U-Bahn auf Frauenjagd, in der anderen folgt Brandon in seiner Wohnung ebenfalls einer durch die Sucht nach Sex geprägten täglichen Routine. Beide Stränge zeigen uns die Hauptfigur als kühles und nach Sex lechzendes Raubtier. Aber eben auch gleichzeitig als einsamen und von Leere geprägten Zeitgenossen.
Und täglich grüßt das Murmeltier
Blicken wir einmal auf das Segment, das in Brandons Wohnung spielt. Die Kühle der Hauptfigur wird hier alleine schon durch das Setting vermittelt. Kein einziges Bild und kein persönlicher Gegenstand sind zu sehen. Weiße Wände und nur wenige Farbe – auf einen heiteren jungen Mann läßt dies eher nicht schließen. Dazu ist die Farbgebung des Filmes generell in kühlem Licht gehalten. Auch die Farbkorrektur darf also ihren Beitrag zur Offenlegung von Brandons Charakter beitragen.
Die kühle Monotonie wird aber auch durch den stets gleichen Ablauf von Brandons Tagesrhythmus unterstrichen. Aufstehen, Rolladen hochziehen, Anrufbeantworter abhören, Glas Wasser holen – wir bekommen hier nicht gerade glamourösen Alltag serviert. Spannend ist dabei aber, dass der Film im gleichen Umfeld uns ebenfalls das Masturbieren von Brandon unter der Dusche, sowie das Treffen mit der Prostituierten und den gemeinsamen Geschlechtsverkehr präsentiert. Auch diese Sachen sind für Brandon typischer Alltag. So läuft das Treffen mit der Prostituierten routiniert und emotionslos. Hereinbitten, Geld geben und ab ins Schlafzimmer. Förmlicher und liebloser geht es nicht.
Kein Anschluss unter dieser Nummer
Für Brandon ist Sex eben das Gleiche wie sich ein Glas Wasser zu holen. Eine Routine, die in seinem Leben einen festen und unverzichtbaren Platz eingenommen hat. Aus der er aber keinerlei Freude mehr zieht. So wie Brandon jeden Morgen den gleichen Weg zu seinem Glas Wasser nimmt, so hat er eben auch in Sachen Sex eine Routine entwickelt. Aber da ist noch mehr. Brandon ist in Sachen Sex ein Getriebener. Unterstrichen wird dies vom Soundtrack, dessen Grundlage aus einer Art schnellem Ticken besteht. Immer schneller, immer mehr. Als ob ein Countdown für Brandon läuft, bis zum nächsten stimulierenden Abenteuer.
Brandon hat den Druck Sex zu haben, nicht das Vergnügen. Und es wird auch deutlich: Persönliche Nähe ist für den kühlen Brandon eher schwierig. Was man nicht nur durch den emotionslosen Austausch mit der Prostituierten sieht. Sondern vor allem auch durch die nicht beantworteten Nachrichten auf dem Anrufbeantworter. Hier hat offensichtlich eine Frau echtes Interesse daran persönlichen Kontakt mit ihm aufzunehmen und Brandon ruft einfach nicht zurück. Er scheint diese Anrufe gar nicht zu registrieren. Stattdessen masturbiert er lieber.
Nur der Kick zählt
Die Sequenz in der Wohnung von Brandon mit dem Attribut „kühl“ zu beschreiben ist grotesk untertrieben. Man hätte dessen erotischen Abenteuer mit Prostituierten natürlich auch ganz anders darstellen können. Exotische Deko in der Wohnung, fröhliche Musik und ein flapsiger Dialog mit der Prostituierten – da wäre die Wirkung anders ausgefallen. Aber dies ist ein Figur, für die Sex eben kein Vergnügen sondern ein Muss ist. Und es zeigt sich so wiedereinmal, wie entscheidend bei einem Film das Zusammenspiel aller Stilmittel für die Charakterzeichnung ist.
Wirkliche Emotionen zeigt Brandon nur in wenigen Momenten. Beispielsweise bei seiner Masturbation unter der Dusche, wo er schon alle Kräfte aufbringen muss, um wirklich etwas zu „fühlen“. Ein symbolträchtiges Bild. Und dann ist da noch Brandons gieriger Blick, als sich die Prostituierte vor ihm entkleidet. Es wird deutlich: Brandon ist ein Raubtier, dessen einziger Thrill das „Erlegen“ der Beute ist. Weil ihm nur das den schlussendlichen Kick gibt.
Eine Hauptfigur auf der Jagd
Genau hier setzt dann auch die zweite Handlungsebene an. Eine dramaturgisch perfekt inszenierte Sequenz in einer U-Bahn, in der Brandon sich auf die Jagd nach einer attraktiven Frau macht. Ein Segment, das irgendwie an ein National Geographic Video erinnert, bei dem die Gazelle so gerade noch dem Löwen entkommen kann.
Es ist dieser Erzählstrang, der die Hauptfigur endgültig in die Kategorie „Creep“ katapultiert. Ein wundervolles Crescendo, bei dem Brandon erst langsam seine Beute umschleicht bevor er dann zuschnappen möchte. Als er die Frau in der U-Bahn das erste Mal erblickt hören wir über die Audioebene Geräusche von Geschlechtsverkehr. Es ist einer der Momente, wo der Film dann gleich die Location wechselt und als nächstes Brandon nach dem Geschlechtsakt in seinem Bett zeigt. Dieser Übergang verdeutlicht, dass Brandon auch in der U-Bahn Frauen nur mit einem verbindet: schnellem Sex. Und während die Dame in der Bahn anfangs noch geschmeichelt auf die Blicke unseres Gigolos reagiert, wird sie bald merken, dass mit Brandon nicht zu spaßen ist.
Der Charme verfliegt
Was jetzt beginnt ist ein großartiges Schauspielerduell. Der harmlose Flirt steigert sich zu einer ernsthaften Bedrohung für die Dame, die erst verschämt ihre Beine übereinanderschlägt und dann, mit spürbarem Unbehagen, vorzeitig aussteigen möchte. Ausgelöst wird das Ganze durch Brandons gnadenlosen Erobererblick, der auch nicht halt macht als die Frau eine spürbar ablehnendere Haltung einnimmt. Ein Raubtier läßt eben nicht von seiner Beute ab.
Aus einem scheinbar harmlosen Flirt wird nun also Ernst. Die Szene findet ihren Höhepunkt als Brandon, obwohl der Ehering der Dame deutlich zu sehen ist, zur Attacke übergeht und sich eng hinter sie an die U-Bahntür stellt. Spätestens nun wird auch dem Publikum klar, mit was für einem Zeitgenossen sie es hier zu tun haben. Ein wildes Tier, dass auf die Gefühle anderer Menschen keine Rücksicht nimmt.
Wer braucht schon Sympathie
So oft reden wir hier ja darüber, dass es wichtig ist eine Hauptfigur auf irgendeine Art und Weise sympathisch wirken zu lassen. Irgendeinen Anker zu finden, an dem sich der Zuschauer festhalten kann. Selbst dem guten Paten ist das damals gelungen. Hier aber entfernt sich die Hauptfigur aber in Sachen Sympathie jede Minute weiter von seinem Publikum. Die Identifikation mit Brandon fällt angesichts dieser Einführung schon verdammt schwer.
„Shame“ wird diese Möglichkeit erst später bieten, wenn mit dem Auftauchen von Brandons Schwester Sissy eine Art Stimme der Vernunft das Leben unseres Protagonisten betritt. Davor wird Brandon aber konsequent unsympathisch gezeigt, was natürlich ein gewisses Risiko birgt. Durch die Schwester wird dies aber etwas aufgefangen werden und so bleibt festzuhalten, dass eben nicht jede Einführung unbedingt irgendein Band der Sympathie zwischen Figur und Publikum aufbauen muss. Solange später eine gewisse Art der Katharsis zumindest möglich erscheint.
Die Faszination der Selbstzerstörung
Wie konsequent unsympathisch die Hauptfigur in „Shame“ etabliert wird, unterstreicht die Szene, die direkt im Anschluss an unsere Einführung folgt. Hier sitzt Brandon in einem Büro und schrickt fast auf, als sein Chef ihn scheinbar als widerwärtig, trostlos und aufdringlich bezeichnet. Erst im Nachhinein stellt sich heraus, dass er gar nicht ihn gemeint hat. Das sich Brandon davon ertappt fühlt spricht aber natürlich Bände und so bekommen wir hier im Wesentlichen noch einmal in einem Satz dessen vorherige Charakterzeichnung zusammengefasst.
Auch wenn diese Anschlussszene fast schon etwas zu plump wirkt im Vergleich zu der eleganten Einführung davor, zeigt sie doch noch einmal eindrucksvoll mit welcher Entschlossenheit die Macher hier die Hauptfigur als moralisch fehlgeleiteten Menschen etablieren wollen. Und der Rest des Filmes beweist dann, dass solch eine extreme „negative“ Charaktereinführung nicht zwangsläufig das Ende der Aufmerksamkeit des Zuschauers bedeuten muss. Vor allem dank Fassbender und der intensiven Inszenierung blicken wir diesem „Monster“ am Anfang zwar abgestoßen aber auch fasziniert zu. Und ahnen bereits, dass dieses Verhalten wohl nicht lange gut gehen wird. Die Bühne ist bereit für die faszinierende Selbstzerstörung unseres Protagonisten…