Serie

Tom Kane – Boss

Bürgermeister von Chicago zu sein ist schon stressig genug. Eine degenerative Nervenerkrankung obendrauf macht den Job aber nicht gerade einfacher. Muss abwägen wie korrupt er noch sein möchte: Tom Kane.

Boss (2011 – 2012) – Die Story

Drehbuch Episode 1: Farhad Safinia, Angelina Burnett
Diese Diagnose verändert alles. Der korrupte Bürgermeister von Chicago Tom Kane (Kelsey Grammer) wird mit einer seltenen degenerativen Nervenerkrankung diagnostiziert und hat nur noch wenige Jahre zu leben. Die und seinen Job möchte er aber mit Erfolg weiterführen und so verheimlicht er seinen immer schlechter werdenden Gesundheitszustand. Doch Tag um Tag wird es schwieriger das Kartenhaus der Macht zusammenzuhalten.

Die Einführung von Tom Kane

In einer verlassenen ehemaligen Schlachterei hat sich Bürgermeister Tom Kane mit seiner Ärztin verabredet. Denn was sie ihm mitteilt darf keiner erfahren. Die Diagnose: Kane leidet unter der tödlichen Lewy-Körper-Demenz. Im Detail schildert die Ärztin dem auf einem Stuhl sitzenden Kane mit welchen Folgen er in den nächsten Jahren zu rechnen hat. Ein unumkehrbarer degenerativer Prozess ohne Chance auf Heilung. Orientierung, Intelligenz und Sprachfähigkeit werden abnehmen. Wahnvorstellungen, Depressionen und Zittern wiederum werden zunehmen. Kane wird bald zum Pflegefall.

„Wie lange noch?“, fragt Kane. Die Ärztin gibt ihm höchsten fünf Jahre bis zum Tod. Auf Nachfrage schlägt sie Kane vor das drohende Zittern des Körpers durch Medikamente lindern zu können. Mögliche Nebenwirkungen scheinen ihn nicht zu beeindrucken. Als sie vorschlägt, dass er sich Unterstützung im eigenen Umfeld holen sollte, steht Kane von seinem Stuhl auf und wechselt das Thema. Jetzt erteilt er ihr Geschichtsunterricht über die alte Fleischfabrik. Bevor er sie dann zu ihrem Wagen begleitet und sich eindrücklich für ihre Verschwiegenheit bedankt. Während die Ärztin davonfährt schnappt Kane sein Handy und ruft seinen persönlichen Fahrer. Bevor der kommt bleibt ihm aber ein Moment der Einsamkeit. Kane lehnt sich an die Häuserwand und kämpft mit den Tränen.

Tom Kane in "Boss" - Zitat

Die Analyse:

Bei vielen Charaktereinführungen spannt man uns ja öfters ein bisschen auf die Folter. Wir bekommen nur erste Andeutungen zur Figur serviert oder sehen vielleicht zu Beginn nur ihre Umrisse – mystische Überhöhung par excellence. „Boss“ geht die Einführung ganz anders an und setzt uns den Protagonisten gleich einmal direkt vor die Nase – in einem der intimsten Momente, den man sich vorstellen kann. Wir schauen Tom Kane direkt in die Augen wenn er in einer leeren Fabrikhalle sein Todesurteil erfährt.

Eindringlicher geht es kaum. Die Kamera fährt dabei sogar noch immer näher auf ihn zu und rückt uns so als Zuschauer nur noch dichter an diese Figur heran. Nur für kurze Momente schneidet man Detailaufnahmen vom Mund oder der Hand der Ärztin dazwischen, die selbst aber lange Zeit nie richtig zu sehen ist. Der komplette Fokus liegt auf Kane, der allerdings kaum spricht und die Diagnose nahezu regungslos über sich ergehen läßt. Doch wie wir schon an anderer Stelle gesehen haben, die Passivität des Protagonisten muss kein Hindernis auf dem Weg zum Charakteraufbau sein. Alleine durch das Szenario und die oft subtilen Reaktionen von Kane gelingt es „Boss“ ein ziemlich überzeugendes Bild seiner Hauptfigur zu zeichnen.

Tom Kane in "Boss"
Das ist aber keine Arztpraxis! Kane sucht sich ein noch anonymeres Plätzchen (Foto: ©Filmconfect Home Entertainment GmbH).

Charakterzeichnung aus der Fabrik
Wer nur den Worten der Ärztin lauscht wird nicht viel über den Charakter Tom Kane erfahren. Dafür aber umso mehr, was die Diagnose für den Körper und Geist Kanes in der Zukunft bedeutet. Im Wesentlichen bekommen wir also hier schon einmal eine Art Teaser für das serviert, was die Figur im Rest der Serie erwartet. Doch mit was für einem Menschen haben wir es hier als Zuschauer zu tun? Den ersten Hinweis darauf bekommen wir durch die Wahl der Location.

So intim und persönlich die Diagnose auch ist, der Ort wo sie fällt ist es nicht. Wieso sitzen wir hier in einer alten leeren Fabrikhalle, die im Vergleich selbst das sterilste Arztbüro noch wie ein gemütliches Wohnzimmer mit Holzofenkamin wirken läßt? Die Antwort: diese Ortswahl verrät uns viel über die Figur, denn die extrem kühle Umgebung passt perfekt zu Kane (der Nachname läßt bereits selbiges vermuten). Ein anderer Protagonist hätte diese Diagnose vielleicht mit seiner Frau an der Seite aufgenommen – doch das wäre dann eine andere Serie geworden. Tom Kane ist ein knallharter Machtmensch, der jegliche zwischenmenschliche Wärme und echten Emotionen vermissen läßt. Und der bloß nicht möchte, dass irgendjemand von seiner neuen „Schwäche“ erfährt. Womit eine abgelegene ehemalige Schlachterei nicht nur für die Figur selbst Sinn macht, sondern auch symbolisch perfekt zu ihr passt.

Tom Kane in "Boss"
Immer mit der Ruhe. Ist ja nur eine tödliche Diagnose (Foto: ©Filmconfect Home Entertainment GmbH).

Immer cool bleiben
Genauso kühl wie der Ort ist auch die Reaktion von Tom Kane. Die Analyse der Ärztin wird von Sekunde zu Sekunde dramatischer, doch Kane läßt sich kaum etwas anmerken. Man fühlt, wie dieser Mann sich keine Blöße geben will und sich spürbar zusammenreißt. Womit wir dann auch schon bei der essentiellen Charaktereigenschaft sind, welche die Folge in den ersten Minuten etablieren möchte. Tom Kane ist ein knallharter Typ, der vor keinem Menschen Schwäche eingestehen möchte – nicht einmal vor seiner behandelnden Ärztin.

Das wir so direkt in den zentralen Handlungsstrang starten hat natürlich auch etwas mit den Sehgewohnheiten des modernen Publikums zu tun. Die Gefahr abzuschalten sinkt bei so einem Paukenschlag zu Beginn natürlich deutlich. Aber irgendwie passt diese Art der Einführung doch auch ganz gut zu einer Figur, die selbst sehr gerne direkt und schnell auf den Punkt kommt. So wird genau die richtige Atmosphäre geschaffen, damit wir als Publikum die Essenz dieser Figur besser verstehen.

Tom Kane in "Boss"
Einst wurden hier Schweine geschlachtet – nun die Lebenspläne korrupter Politiker (Foto: ©Filmconfect Home Entertainment GmbH).

Kurz angebunden
Im weiteren Verlauf des Gespräches wird unser bisheriger Eindruck zu der Figur noch weiter verstärkt. Kanes nüchternes „Wie lange noch?“ unterstreicht, dass er nicht auf Small Talk aus ist und direkt zur entscheidenden Frage kommen möchte. Noch mehr verrät aber Kanes zweite Aussage. „Ich darf nicht zittern“ wirft Kane der Ärztin entgegen. Er bleibt hartnäckig dran und erkundigt sich welche Medikamente dieses Leiden lindern könnten. Und als die Ärztin mögliche Nebenwirkungen anspricht würgt Kane sie mit dem energischen Wiederholen der Frage bei gleichzeitiger Umwandlung in einen Befehlston ab: „Mit welchen?!“

Das Zittern zu vermeiden ist für Kane Pflicht und nicht verhandelbar. So wird das Bild eines Mannes, der dem Erhalt seiner Machtposition alles andere unterordnet nur noch weiter verstärkt. Dabei ist auch die Art der Dialogführung interessant, denn im Gegensatz zur Ärztin arbeitet Kane mit extrem kurzen Sätzen, die meist aus nicht mehr als zwei bis drei Worten bestehen. Das strahlt Dominanz und Zielstrebigkeit aus. Und das dieser Mann nichts anderes als seine Karriere im Kopf hat wird kurz darauf sogar noch eindrücklicher aufgezeigt.

Tom Kane in "Boss"
Sprechstunde vorbei – reden wir doch über diese schöne Halle (Foto: ©Filmconfect Home Entertainment GmbH).

Selbsthilfegruppen sind für Weicheier
Als Mann der Schwächen weder besitzen noch zeigen möchte ist das Schlimmste natürlich eine Abhängigkeit von anderen Menschen. Und genau dieser Punkt wird elegant in der Einführung ausgespielt. Nämlich dadurch, dass Kane das Gespräch einfach abbricht, als die Ärztin sich nach dessen Umfeld erkundigt und nicht nur dessen Familie, sondern gleich auch eine mögliche Unterstützung von Selbsthilfegruppen ins Spiel bringt. Ein Tom Kane braucht aber keine Selbsthilfegruppen. Und so beendet dieser mit einem kurzen Danke diesen Teil des Gespräches abrupt und steht einfach auf.

Es ist für die Charakterzeichnung eben nicht nur interessant über was jemand spricht, sondern auch über was nicht. Kane hat all die für ihn wichtigen Infos und kontert den Versuch der Ärztin ihm Hilfe anzubieten mit dem was er am Besten kann – den Politiker spielen. Und so philosophiert er nun, völlig aus dem Kontext gerissen, auf einmal blumig über die Geschichte der ehemaligen Fabrikhalle. Verbunden wird dies mit einer Feststellung über die Vergänglichkeit des Lebens, die ehrlich gesagt aber etwas plump daherkommt und für die Figur etwas zu soft wirkt. Die Absicht dahinter ist trotzdem klar: Kane möchte so schnell wie möglich die eigene Schwäche kaschieren. Und da er die eigene Sterblichkeit nun ja nicht mehr leugnen kann, wirft er einfach ein, dass das Leben ja sowieso für alle Menschen vergänglich ist.

Tom Kane in "Boss"
Subtiler Druck. Hier fährt niemand weg ohne eine Schippe Einschüchterung (Foto: ©Filmconfect Home Entertainment GmbH).

Autotür der Angst
Als Kane dann aber das Gebäude verläßt weicht der blumige Smalltalk einer knallharten Machtdemonstration. Und einer ziemlich starken Szene, in der ohne Worte eine sehr eindringliche Drohung ausgesprochen wird. Als die Ärztin in ihr Auto steigt und die Tür schließen möchte hält Kane die Autotür für einen kurzen Moment fest. Und blickt die Dame eindringlich an, die spürbar eingeschüchtert ist. Kane lockert den Griff und unsere Ärztin kann die Autotür schließen und abfahren. Mit im Kofferraum: Kanes Botschaft. Wehe, wenn auch nur ein Wort dieser Unterhaltung öffentlich wird.

Der Machtmensch hat seine dominante Seite gezeigt und spätestens hier nun seine Seele offengelegt. Uns als Publikum ist klar: diesen Mann möchte man nicht zum Feind haben. Genauso emotionslos ist Kane dann auch bei dem Telefonat mit seinem Fahrer, den er darum bittet ihn abzuholen. Eigentlich sollte das Leben dieses Mannes aus den Fugen geraten sein, doch immer noch reißt er sich professionell zusammen und gibt den unerschütterlichen Profipolitiker, der sich keine Blöße gibt. Was eine andere interessante Frage aufwirft: Wie kommt so eine extrem kühle und distanzierte Einführung denn beim Publikum an?

Tom Kane in "Boss"
Schaut auch keiner? Kane läßt den Gefühlen endlich freien Lauf (Foto: ©Filmconfect Home Entertainment GmbH).

Machiavelli mit Herz
Ohne die Figur überhaupt kennengelernt zu haben wirft man uns und ihr direkt diese Diagnose an den Kopf, welche dann auch noch so emotionslos aufgenommen wird. Und zeigt die Figur als eiskalten Machtmenschen. Verpulvert man hier nicht dramaturgisches Potential und riskiert, dass die Figur emotional beim Publikum niemals andocken wird? Damit das nicht passiert macht „Boss“ aber in dieser Einführung etwas extrem Wichtiges. Es reißt für einen kurzen Moment die harte Fassade dieses Mannes herunter.

Kaum ist Kane nämlich jetzt alleine bricht er innerlich zusammen und lehnt sich mit Tränen in den Augen an eine Wand. Kane ist also doch ein Mensch. Wobei es natürlich viel über diesen Charakter verrät, wenn er seine Fassade erst fallen läßt, wenn auch wirklich kein anderer zusieht. Ein Moment, der aber essentiell für die Empathie des Publikums ist, dass zwar eine solche Figur nie lieben wird aber doch dringend einen emotionalen Haken braucht, um ein gewisses Grundinteresse an dessen Schicksal zu entwickeln. Am Ende zeichnet „Boss“ in dieser Charaktereinführung also ein ziemlich gutes Bild von Kanes machiavellischen Charakterzügen, in dem es ihn geschickt mit dem Schlimmsten konfrontiert, was eine solche Figur erfahren kann: Schwäche und Verletzlichkeit. Doch dank einem kleinen Spritzer Menschlichkeit gelingt es gleichzeitig auch die Empathie des Zuschauers zumindest noch auf kleiner Flamme weiter köcheln zu lassen. Die Machtdemonstration darf weitergehen…

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